Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag vor über 20 Jahren. Ich ging gerade die Straße zu meiner Wohnung entlang. Eine Stunde vorher hatte ich meinen allerersten richtigen Arbeitsvertrag unterschrieben, mit Aussicht auf einen Ausbildungsplatz als Buchhändlerin im darauffolgenden Jahr. Ich war Ende 20 und hatte es endlich, ENDLICH, geschafft, beruflich eine Richtung einzuschlagen. Ich war so glücklich, wie man es in solchen Momenten nur sein kann.
Als ich mich aber meinem Wohnhaus näherte, wurde ich immer langsamer und nachdenklicher. Meine Freude verringerte sich mit jedem Schritt, denn mir wurde etwas Erschütterndes klar. So viele Jahre hatte ich drei Probleme gehabt, die für mich riesengroß und unüberwindbar erschienen. Erstens war ich übergewichtig und nahm kontinuierlich zu, zweitens war ich seit Ewigkeiten Single und drittens wusste ich eigentlich seit meinem Abitur nicht, was ich beruflich machen wollte und hatte darum weder Job noch irgendeine nützliche Ausbildung (meine Zeit an der Uni zähle ich nicht, da sich daraus nie ein Berufsweg ergeben hat).
Mein drittes Problem war somit gelöst und als mir das so richtig klar wurde, blieb ich auf dem Gehweg stehen. Dieses Megaproblem war tatsächlich gelöst. Ich musste mich jetzt nicht mehr schuldig und schäbig fühlen, weil ich immer noch keinen Beruf hatte. Ich musste deswegen keine depressiven Phasen erleben, mir Selbstvorwürfe machen, ständig neue Bücher zu diesem Thema kaufen und keine Therapie deswegen mehr machen. Statt Erleichterung machte sich bei mir aber ein ganz anderes Gefühl breit.
Ich hörte mich ernsthaft fragen "Und was jetzt? Ich bin jetzt tatsächlich dieses existentielle Problem los. Was bleibt mir denn da noch?" Gefühle der Leere und der Angst machten sich in mir breit.
Und dann kam die Antwort: "Gott sei Dank bin ich noch fett!"
Als mir dieser Gedanke bewusst wurde, musste ich fast laut lachen. Ich nahm wieder meinen Weg zu meiner Wohnung auf, während ich mir diesen absurden Satz durch den Kopf gehen ließ.
Fakt war, dass der Gedanke, dass ich mir über ein riesiges Lebensthema keinen Kopf mehr machen musste, Ängste bei mir auslöste. Ich merkte plötzlich, dass ich mir ein Leben ohne lebenserschütternde Probleme nicht vorstellen konnte. Und ich musste mir auch beschämt ein paar Vorurteile eingestehen. Ich war überzeugt davon, dass nur Menschen mit richtigen Problemen, tiefe und empathische und auch intelligente Menschen waren. Menschen, die nie gelitten hatten, waren meiner Meinung nach oberflächlich. Und ich wollte auf keinen Fall oberflächlich sein. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Nutzen in meinen Depressionen und Problemen sehen konnte. Wenn ich mir vorstellte, schlank mit nettem Job und in glücklicher Beziehung zu sein, dann sah ich nur eine sehr oberflächliche Karina vor mir, die nichts mehr hatte, um sich mit anderen Menschen zu verbinden.
Ich war erschüttert. Wenn ich tatsächlich so etwas glaubte, wie konnte ich dann erwarten, jemals Lösungen für meine Probleme zu finden? Ich würde mich wahrscheinlich immer unterbewusst boykottieren und dadurch selber dafür sorgen, dass meine Probleme niemals verschwinden würden.
Damals, an jenem Tag, wurde mir so einiges über mich klar. Und ich wusste, dass ich erst noch am Anfang meines Weges stand. Ich konnte an diesem bestimmten Tag natürlich nicht meine Ängste und Glaubenssätze auflösen. Ich spürte weiter meine Erleichterung darüber, dass ich immer noch ungelöste Probleme hatte. Aber ich vergaß niemals mehr, dass es nicht mein Ziel ist, mich weiterhin nur über meine Probleme definieren zu wollen. Und ich wollte auch an meinem Vorurteil arbeiten, dass glückliche Menschen oberflächliche Menschen sind.
Heute sind alle meine drei Hauptprobleme aus meinem Leben verschwunden und trotzdem bin ich immer noch erleichtert, dass mir das Leben weiterhin neue Knochen hinwirft an denen ich meine mentalen und emotionalen Zähne schärfen darf. Ich habe ein erfülltes Leben aber trotzdem ist für mich nicht jeder Tag rosarot. Aber ich stelle mich nun Problemen anderer Art, die meistens bei Weitem nicht mehr so groß und allumfassend sind.
Aber es ist wahr, dass ich jetzt viel weniger zu erzählen habe, seitdem ich keine großen Probleme habe. Ich weiß noch wie ich Millionen von Stunden mit Freundinnen meine Probleme von allen Seiten beleuchtet hatte. Es waren die schönsten und tiefsten Momente. Aber noch nie habe ich anderen stundenlang erzählt wie wundervoll mein Job ist, den ich gerade habe oder wie toll meine Beziehung gerade läuft. So etwas habe ich normalerweise in ein bis drei Sätzen erschöpfend erzählt.
Aber bin ich deswegen ein oberflächlicher Mensch geworden? Das ist natürlich etwas, was meine Freunde einschätzen müssen. Es könnte ja sein, dass ich manchmal weniger einfühlsam ihren Problemen gegenüber bin. Vielleicht bin ich etwas ungeduldiger geworden? Ich weiß es nicht. Aber vielleicht denken sie ja auch, dass sie mir ihre Probleme nicht mehr anvertrauen können, weil sie glauben, ich könnte sie nicht mehr verstehen?
Bis jetzt habe ich jedenfalls noch keine Rückmeldung dazu bekommen. Und ich kann mich auch erinnern, dass ich auch schon damals, als problembelastetes Wesen, Momente von bemerkenswerter Unsensibilität hatte. Meiner Meinung nach hat das also nichts mit der Anzahl und Schwere von Problemen in meinem Leben zu tun. Aber ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren.
Es war eine Herausforderung für mich, als ich mit einem Schlag mein Gewicht verloren und meinen Mann gewonnen hatte. Ich musste die entstandene Leere irgendwie ausfüllen (verliebt zu sein, hilft am Anfang dabei natürlich ungemein). Ich merke, dass ich mich immer noch sehr mit meinem Übergewicht beschäftige obwohl ich es nicht mehr habe. Mein Leben lang war ich dick und jetzt, wo ich schlank bin, schreibe ich viel über mein damaliges dick sein und will sogar eine Webseite aufbauen, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Es wird mich wahrscheinlich nicht loslassen. Oder besser: Ich will es nicht loslassen. Denn die Frage ist ja, wer bin ich, wenn ich nicht mehr die Dicke oder Ex-Dicke bin? Und reicht das überhaupt aus?
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Ein toller Text!
AntwortenLöschenVielen Dank, Annika. Beim Schreiben des Textes ist mir erst richtig klar geworden, wie sehr ich mich immer noch ueber mein dick sein und andere Probleme definiere. Das ist es, was ich so am Schreiben dieses Blogs liebe: Es hilf mir manchmal, mein Leben zu "verdauen".
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