Sonntag, 3. Mai 2015

Papa ist nicht ante portas oder warum die Angst vor Vorfreude das Leben langweilig machen kann

Früher habe ich alles daran gesetzt, mich nicht auf etwas zu freuen, was nicht bereits quasi vor mir auf dem Tisch lag. Der Spruch „Vorfreude ist die schönste Freude“ war mir immer ein vollkommenes Rätsel. Wie konnte ich mich auf etwas freuen, was nicht schon da war? Es konnte doch so viel passieren und dazwischen kommen. Und dann? Dann würde ich da stehen mit unerträglichen Gefühlen von Enttäuschung und Traurigkeit. Hinzu kam, dass ich auf diesem Gebiet abergläubisch war. Ich war überzeugt davon, dass meine Vorfreude das Ereignis, auf das ich mich so freute, vereiteln würde. Niemals, so schwor ich mir, würde ich mich im Voraus auf etwas freuen. Das konnte doch nur schief gehen.

Diese Angst vor der Vorfreude ist bei mir auf meinen Vater zurückzuführen. Ich habe heute meinen Frieden mit ihm geschlossen aber als Kind konnte ich mich niemals auf ihn verlassen. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich vier war und wann immer wir meine Großmutter in Niedersachsen besuchten, vereinbarte meine Mutter mit meinem Vater, der dort in der Nähe lebte, dass er einen Tag mit mir verbringen sollte.

Meine ganze Kindheit über erinnere ich mich an unzählige Male, wo ich früh morgens ganz aufgeregt aus dem Bett sprang, um dann ab 8 Uhr gespannt am Fenster im ersten Stock zu stehen, um sein Auto so früh wie möglich zu erspähen. Dabei wurde er meistens erst um 10 Uhr oder 11 Uhr erwartet. Aber ich freute mich so sehr auf einen Tag mit ihm, dass mir meine Ungeduld keine Wahl ließ.

Da stand ich also und konnte kaum atmen, so glücklich war ich, ihn bald wiederzusehen. Ich sehnte mich nach seiner Stimme, seinen Witzen und nach seiner Aufmerksamkeit. Ich bekam ihn sonst nur selten zu sehen, denn er war ein vielbeschäftigter Pilot und hatte nie Zeit, uns in Berlin zu besuchen.

Oft ist er gekommen wie versprochen, aber wahrscheinlich genauso oft stand ich an demselben Fenster auch noch nachmittags um 14 Uhr. Bei jedem Motorengeräusch hoffte ich immer noch, dass er vielleicht doch noch kommen würde. Leider sagte er seine Besuche nur selten im Voraus ab. Meistens rief er erst abends oder am nächsten Tag an und entschuldigte sich für sein Nicht-Erscheinen. Es sei ihm wieder Arbeit dazwischen gekommen, hieß es dann immer.

Meine kindliche Enttäuschung war jedes Mal ungeheuer groß. Die Gefühle von Traurigkeit und Verzweiflung und unerfüllter Liebe waren so überwältigend, dass ich manchmal Tage danach noch niedergeschlagen war. Hinzu kam, dass ich natürlich dachte, dass er wahrscheinlich deswegen nicht kam, weil ich nicht liebenswert war.

Und trotzdem konnte ich mich in meiner Kindheit nie meiner Vorfreude erwehren, wenn es wieder hieß, Papa kommt dich abholen.

Im Laufe der Jahre mischte sich aber in diese Freude Angst. Denn zu oft, ließ er mich hängen. Als Teenager freute ich mich immer weniger auf ihn. Es mischten sich immer mehr Wut und Enttäuschung darin und ich lernte auch, mich nicht mehr auf ihn zu freuen. Warum Enttäuschung riskieren bei jemanden wo die Chance für eine Enttäuschung bei etwa 50% lag?

Allerdings wandte ich diese Lehre auf alle Gebiete in meinem Leben an. Ich versuchte nichts mehr von irgendjemanden oder gar von meinem Leben zu erwarten. Natürlich lebte ich mein Leben, aber freuen tat ich mich erst, wenn ich es hatte. Nicht eine Sekunde früher.

Das machte mein Leben eigentlich ganz schön dröge. Da ich ja Angst vor der Vorfreude hatte, hatte ich auch Angst, mir Dinge zu wünschen oder vorzunehmen, die dieses Gefühl in mir auslösen könnten. Alles, was ich plante, waren also Dinge, die mir nicht allzu wichtig waren und deren Nichtverwirklichung ich gut verkraften könnte. Ich hatte so große Angst vor Enttäuschungen, dass ich mir sogar Jahre lang gar keine Ziele oder Wünsche setzte. So etwas nennt man dann Depression.

Heute genieße ich meine Vorfreude als eigenes Gefühl, das ich nicht mehr missen möchte, denn ich habe drei Dinge über die Vorfreude gelernt:

1.    Ich bin kein Kind mehr, das hilflos am Fenster steht und darauf wartet, dass der Wagen meines Vaters um die Ecke biegt. Ich habe viel mehr in der Hand, was um mich herum und in mir geschieht. Selbst wenn das, vorauf ich mich so gefreut habe, nicht eintreten sollte, kann ich auch aus der neuen Situation oft noch etwas Gutes machen. Zwar mag alles nicht so sein, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber das spornt meistens erst recht meine Kreativität an.
2.    Heute weiß ich, dass die Welt für mich nicht mehr untergeht, nur weil ich Gefühle der Enttäuschung und Traurigkeit erlebe. Natürlich bin ich auch heute manchmal enttäuscht aber dieses Gefühl ist bei Weitem nicht mit dem Gefühl des Kindes zu vergleichen. Als Kind bedeuteten solche Gefühle tatsächlich den Weltuntergang für mich. Das ist normal bei Kindern. Ich war anscheinend noch lange in diesem kindlichen Umgang mit meinen negativen Gefühlen gefangen und lernte erst spät, dass meine Angst vor ihnen unbegründet war.
3.    Vorfreude ist Freude. Ganz einfach. Und ich will mich keiner Freude in meinem Leben mehr berauben, egal in welchem Gewand sie kommen mag. Manchmal dauert ja die Vorfreude auf ein Ereignis viel länger an, als das Ereignis selber.  Die Vorfreude auf ein Konzert oder eine Reise kann bei mir Wochen oder Monate andauern. Und sollte das Ereignis tatsächlich mal nicht meine Erwartungen erfüllen, hatte ich aber trotzdem schon viel Freude im Voraus dafür kassiert.

Ich freue mich jedes Mal wie wahnsinnig darauf, wenn ich wieder mal nach Berlin reise, um alle meine Lieben zu besuchen. Und jedes Mal entspricht die Reise selber nicht dem, was ich mir in meiner Vorfreude vorher ausgemalt hatte. Mir ist mein Urlaub in Berlin immer viel zu kurz, um mir wirklich alle meine Bedürfnisse zu befriedigen. Ich sehe manche meiner Freunde und meiner Familie nicht oft genug und nicht lang genug obwohl ich meinen Terminplan bis ins Letzte ausreize. Gleichzeitig bekomme ich aber auch nicht genug Auszeiten, damit ich diese Reise wirklich als Urlaub empfinden könnte. Oft komme ich ganz gestresst wieder nach Hause und bräuchte eigentlich noch einmal Urlaub von diesem Urlaub.

Man sollte eigentlich meinen, dass ich in dieser Angelegenheit in den letzten vier Jahren dazu gelernt habe. Aber habe ich nicht. Ich freue mich jedes Mal aufs Neue und bin jedes Mal ein klein wenig enttäuscht und traurig. Trotzdem will ich auf die Vorfreude nicht verzichten. Sie zeigt mir, dass mir meine Reise nach Berlin enorm wichtig ist. Sie weist mir aber auch die Richtung, in der ich mich weiter entwickeln möchte (ich möchte z.B. einen Job bei dem ich mir mehr Urlaub nehmen kann, damit ich auch mal länger als 11 Tage in Berlin verbringen kann). Meine Vorfreude ist eine Freundin geworden, die ihren ganz eigenen Platz in meinem Leben hat, den ich ihr auch nie wieder nehmen möchte.

1 Kommentar:

  1. Hach, schön geschrieben.
    Die positive Entwicklung ist klasse und zeigt, dass Du selbstkritisch mit Dir umgehst.
    Ich freue mich sehr mit Dir, dass Du dich nun vorfreuen kannst.
    (Und Berlin ist natürlich sowieso jede Vorfreude wert.)

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