Mittwoch, 12. August 2015

Wozu sind eigentlich schmerzhafte Gefühle gut?

Welchem Umstand haben wir es eigentlich zu verdanken, dass so viele Menschen glauben, dass nur das, was weht tut, etwas wert ist? Ich bin genau vom Gegenteil überzeugt.

Im Englischen heißt es "There is no gain in pain" (Grob übersetzt heißt das: "Schmerzen sind zu nichts gut"). Als ich diesen Satz zu meinem 17 jährigen sportbesessenen Stiefsohn sagte, guckte er mich mit riesigen Augen an uns sagte "REALLY?". Und er fing an, mir zu erzählen was Schmerz doch für ein guter Lehrer sei. Wenn er besser werden wolle, müsse er so lange trainieren bis es richtig weh tue und dann noch ein wenig mehr. Nur dadurch würden sich seine Muskeln aufbauen und seine Geschicklichkeit verbessern. Alle seine Coachs würden das leidenschaftlich vertreten und er war auch überzeugt davon, dass das außerhalb des Sports gelten würde.

Ich schaute in diese jungen ungläubigen Augen und verstummte. Wie konnte ich ihm meine vollkommen andere Lebensphilosophie erklären? Und leider war ich auch nicht auf eine hochphilosophische Diskussion mit einem 17jährigen vorbereitet und wählte den einfachsten Weg für mich. Ich hielt einfach die Klappe.

Ich habe aber noch lange darüber nachgedacht, ob mein Lieblingssatz vielleicht doch nicht gültig ist? Vielleicht hat mein Stiefsohn ja recht?

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich geglaubt, dass Schmerz in jeder Form ein unausweichliches Symptom für Wachstum sei. Ich war überzeugt davon, dass alles, was mir z.B. leicht fiel und Spaß machte, nichts wert war. Ich machte z.B. die Erfahrung, dass ich es nur schaffte, eine Diät anzufangen, wenn ich mich vorher in ungeahnten Tiefen von Selbsthass gesuhlt hatte. Und Selbsthass tut höllisch weh - das könnt ihr mir glauben. Aber anders konnte ich mich nicht dazu bringen, eine Diät anzufangen. Und Diäten waren ja was Gutes, oder?

Ich habe also mein ganzes Leben lang geglaubt, dass mein Weg zum glücklich sein nur über Schmerzen aller Art zu erreichen sei.

Wenn das kein Paradox ist.

Aber es ist ein Paradox, dass, glaube ich, auch noch andere leben.

Heute kann ich aber nicht oft und laut genug betonen, dass das meiner Meinung nach Quatsch ist. Dabei lasse ich den Sport hier mal Außen vor (wobei es belegt ist, dass Spitzensportler ihre Fitness verbessern und Muskeln aufbauen können indem sie sich einfach nur regelmäßig VORSTELLEN, dass sie trainieren - dabei tut nachgewiesenermaßen nie etwas weh).

Hier ein paar Beispiele, die für meine Theorie sprechen:

Leistung
- Ich habe mich etliche Jahre sehr auf dem Gymnasium herumgequält. Es fiel mir ungeheuer schwer, mit dem Stoff mitzuhalten, egal wie viel ich auch zu Hause nacharbeitete. Es war harte Arbeit, gepaart mit viel Angst und Unsicherheit und ich wurde und wurde einfach nicht besser.
- Auf dem Gymnasium wurde ich sehr krank und musste deswegen die 9. Klasse wiederholen (obwohl es für mich eigentlich keine Wiederholung war, denn ich war das Jahr zuvor so gut wie nie dagewesen). Mein schlimmster Albtraum war wahr geworden: Ich war eine Sitzenbleiberin. Und plötzlich konnte ich mich entspannen. Meine Ängste waren weg und die Schule war für mich so leicht wie noch nie. Ich fing an, Stunden zu schwänzen, wenn das Wetter schön war und hatte überhaupt kein Problem mit dem Nacharbeiten. Eigentlich musste ich kaum noch was nacharbeiten, denn was immer ich für die Schule erledigen musste, machte ich in den Pausen.

Abnehmen
- Alle meine Diäten waren mit Qualen verbunden. Ich kämpfte gegen ständigen Essdruck, gegen meine Minderwertigkeitsgefühle und sogar gegen meine durch Hunger und Abnehmen indizierte Euphorie. Ich wollte mich ja nicht zu gut fühlen. Man wusste ja, dass das ja nichts Gutes bedeuten konnte. Nur wenn ich wirklich dolle kämpfte und mich auch entsprechend fühlte, hatte ich eine Chance zum Erfolg. Und was soll ich sagen? Der Erfolg stellte sich natürlich nie ein.
- Als ich zu Overeaters Anonymous (OA) fand und deren Weg ausprobierte, dachte ich erst, dass es ein noch schlimmerer innerer Kampf werden würde. Ich hatte eigentlich wirklich keine Lust darauf, da ich ja aus Erfahrung wusste, dass ich sowieso wieder versagen würde. Aber ich versuchte es trotzdem und stellte erstaunt fest, dass von Kampf gar keine Rede war. Ich hatte kaum Essdruck, war von meinem Essplan völlig befriedigt und musste nur den OA-Weg in mein Leben integrieren, was eine organisatorische aber keine emotionale Herausforderung darstellte. Es war erstaunlich leicht und es funktionierte. Ich nahm 80 kg dauerhaft ab.

Beziehungen
- Ok, hier habe ich persönlich nicht so viele Erfahrungen gemacht. Aber ich möchte trotzdem etwas dazu sagen. Ich habe gute Freundinnen, die ihr Leben lang immer wieder Beziehungen haben, die schmerzhaft und kompliziert sind. Manche davon dauern mehrere Jahre an. Es ist ein ständiger Kampf, ein sich Trennen und wieder zusammen kommen, Einsamkeit und Enttäuschung für meine Freundinnen. Ich sehe da viel Schmerz aber selten Wachstum in den Beziehungen.
- Und dann sehe ich Beziehungen, die ganz anders sind. So traf eine meiner Freundinnen, die auf einige schmerzliche und mühselige Beziehungen zurück blicken konnte, vor einem Jahr ihren jetzigen Freund und es war von Anfang an unkompliziert und leicht mit ihm. So leicht, dass sie sich manchmal immer noch fragt, ob das denn überhaupt Liebe sei. Schließlich war für sie früher Liebe in einer Beziehung immer mit Schmerz gepaart. Aber wann immer sie mit ihm zusammen ist, hat sie ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie haben Spaß miteinander und streiten sich nie. Es ist leicht und mühelos mit ihm.

Ich könnte noch zig weitere Beispiele anführen, die meine These bestätigen: "There is no gain in pain". Dies ist und bleibt mein Lieblingssatz. Hoch lebe die Leichtigkeit und die Freude! Dies sind Gefühle, die für mich erstrebenswert sind, auch wenn der Weg zu ihnen nicht unbedingt immer unkompliziert oder geradlinig ist. Aber selbst wenn ich nur auf dem Weg dorthin bin, fühlt sich das schon viel besser an, als immer und immer wieder in alten schmerzhaften Gefühlen und Gedanken zu schwelgen.

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