Egal wie alt ich auch werde, ich scheine Menschen immer noch erst einmal nur nach ihrem Äußeren zu beurteilen.
Ich gehe in Meetings für Esssüchtige und dort tauchen immer wieder Neulinge auf, die, das liegt in der Natur dieser Meetings, oft stark übergewichtig sind. So lernte ich vor ein paar Monaten auch Sarah kennen. Ich unterhielt mich immer wieder mal ein wenig mit ihr, wenn ich sie auf einem dieser Meetings traf. Sie war nett, ungefähr 10 Jahre älter aber eher von der schweigsamen Sorte. Sie erzählte nicht viel von sich. Als sie zu uns kam, wog sie ungefähr 150kg und da sie schon etwas älter war, sah auch alles nicht mehr so sonderlich straff dabei aus.
In unseren Meetings lesen wir viel aus der empfohlenen Literatur und wir erzählen uns gegenseitig unsere Geschichten als Esssüchtige und wie wir es jetzt schaffen abstinent vom Überessen zu bleiben. Neulinge dürfen aber erst vor der Gruppe sprechen, wenn sie 90 Tage abstinent vom Überessen und von Mehl und Zucker sind. Aber nach diesen drei Monaten werden besonders die Neuzugänge ermutigt, ihre Lebensgeschichte in den Gruppen zu erzählen.
Vor etwa drei Monaten war dann Sarah dran, der Gruppe von sich zu erzählen. Ich hörte ihr zu und bin dabei etwa alle 10 Sekunden fast von meinem Hocker gefallen.
Da stand sie nun mit ihrem großen hängenden Bauch und ihrem Doppelkinn und erzählte, dass sie in ihrer Jugend Schönheitskönigin von Kalifornien war und dass sie viele Jahre als Pilotin gearbeitet hatte. Dann reichte sie Fotos von sich herum, die sie in den exotischsten Ländern der Erde zeigten, wo sie ihren Mann zu Expeditionen begleitet hatte. Jetzt arbeitet sie an einem der renommiertesten Colleges Amerikas. Indiana Jones, dachte ich, das ist Indiana Jones nur im völlig verkehrten Körper.
Was mich aber wirklich fertig machte, war die Tatsache, dass ich mich bei meinen eigenen Vorurteilen erwischte. Ich hatte mir ganz offensichtlich unbewusst ein festes Urteil über diese Frau gebildet, dass alleine auf ihr Äußeres basierte. Denn ich hatte sie für ein mäßig intelligentes Hausmütterchen gehalten, dessen aufregendste Unterhaltung das nächste Kreuzworträtsel war und die allenfalls mal als Putzfrau oder an der Supermarktkasse gearbeitet hatte.
Und somit muss ich jetzt etwas gestehen, dass politisch überhaupt nicht korrekt ist: Mein Leben lang fand ich immer, dass extrem dicke Menschen nicht nur hässlich aussehen sondern auch nur mit mäßiger Intelligenz gesegnet sind. Sehr dicke Menschen sahen meiner Meinung nach sehr dumm aus. Außerdem finde ich diese schwabbelnden Massen einfach abstoßend, nicht nur optisch sondern auch weil sie ein eindeutiger Indikator von Willensschwäche sind, unter die Übergewichtige ganz offensichtlich leiden.
Genau das habe ich mein Leben lang von mir selber gedacht, wann immer ich in den Spiegel geguckt habe. Aber genau dasselbe dachte ich auch von allen anderen extrem übergewichtigen Menschen.
Ich habe immer gegen diese Vorurteile angekämpft, schließlich wollte ich mich ja nicht selber derartig ablehnen. Und natürlich hatte ich, trotz dieser Vorurteile, nicht nur schlanke Freundinnen gehabt. Denn wie es so mit Menschen ist, wenn man sie näher kennenlernt und sie mag, merkt man nach einer Weile gar nicht mehr, wie sie aussehen. Ich liebe meine Freundinnen und nichts könnte mir gleichgültiger dabei sein, wie sie aussehen. Darum dachte ich auch, dass ich mich, gerade wegen meiner eigenen Geschichte, weit von dieser oberflächlichen Denkweise entfernt hätte.
Aber hier steh ich nun und muss zugeben, dass ich anscheinend nicht besser bin als jeder andere Mensch, der sich noch nie mit diesem Thema beschäftigt hat. Trotz all meines Wissens habe ich es auch nicht nur eine Sekunde in Frage gestellt, was ich mir über Sarah zusammengereimt hatte. Und es wird noch schrecklicher: Ich bin mir jetzt sicher, dass die Geschichte, die ich mir unterbewusst über sie zusammengeschustert hatte, ganz anders ausgesehen hätte, wenn sie eine schlanke Frau gewesen wäre.
Ist das nicht furchtbar?
Ich finde das furchtbar.
Wahrscheinlich kann ich gar nicht viel an diesen unbewussten Gedankenmustern ändern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es jedem so ähnlich geht und jeder schon einmal eine anfangs festgelegte Meinung über einen Mitmenschen revidieren musste. Irgendwie scheint es etwas ganz Natürliches für uns Menschen zu sein, andere nach ihrem Äußeren zu bewerten. Unsere ganze Kultur ist ja auf diese Macke aufgebaut.
Aber ich bin doch enttäuscht zu merken, dass ich mich in dieser Hinsicht nicht wenigstens auf dem Gebiet der Übergewichtigen weiter entwickelt habe.
Und wisst ihr, was noch schlimmer ist? Nachdem ich also meinen ersten Schrecken überwunden hatte und versuchte, mein Wissen über ihr Leben mit ihrem Äußeren in Einklang zu bringen, muss ich heute gestehen, dass ich dabei immer noch kläglich scheitere.
Sie sieht immer noch wie ein schlecht gekleidetes übergewichtiges Hausmütterchen aus, die zwar inzwischen noch mehr abgenommen hat, aber deswegen nicht unbedingt attraktiver aussieht. Mein Wissen darüber, wer sie wirklich ist, kommt nicht mit ihrem Äußeren zusammen. Aber mein Unterbewusstsein ist anscheinend überhaupt nicht verwirrt. Es besteht darauf, seine anfängliche Interpretation ihres Charakters beizubehalten. Das, was sie über sich erzählt hatte, wurde in meinem Hirn nicht mit ihrer Person verbunden.
Wegen meines dickendiskriminierenden Unterbewusstseins erkenne ich auch heute Indiana Jones nicht, wenn er (sie) neben mir sitzt.
Verflixt noch mal!
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