Samstag, 29. November 2014

Eine kleine Kunde in Gewaltfreier Kommunikation für Fortgeschrittene



Andrew ist eigentlich überhaupt kein Macho. Wir teilen uns dieselben Arbeiten im Haushalt und wir beide kochen. Aber eins macht mich an ihm wahnsinnig: Wann immer wir zu einem der Zusammenkünfte SEINER Familie gehen (und da ich zu ihm in die USA gezogen bin, sind es IMMER nur Zusammenkünfte SEINER Familie), bin ich die einzige, die Salate oder anderes Essen dafür vorbereitet und mitbringt. 

Es ist üblich, immer etwas zum Essen mitzubringen. Das finde ich auch gut. Aber kann mir jemand mal erklären, warum Andrew jedes Mal gemütlich vor dem Fernseher sitzt, während ich in der Küche rumwirbele, mit Lebensmitteln, die ICH alleine eingekauft und bezahlt habe? Warum kommt er nie auf die Idee, mir zu helfen oder wenigstens die Hälfte davon zu bezahlen? Und das Beste ist, am Ende wartet er dann ungeduldig an der Tür auf mich, weil ich immer noch nicht fertig angezogen bin. Schließlich hätte ich mit dem Kochen ja früher anfangen können, oder?

Ich ärgere mich jetzt seit etwa zwei Jahren darüber. Letzte Woche hatten wir deswegen sogar etwas Ärger miteinander. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, dass ich mir die Sache mal genauer mit Hilfe von Marshall Rosenbergs Gewaltfreier Kommunikation angucke.


Marshall Rosenberg hat seinen Prozess in vier Schritte unterteilt, wobei ich diese Schritte im Falle eines Konflikts mit jemand anderem erst auf mich und dann auf den anderen anwende. Der folgende Prozess ist nur für meine eigenen Ohren bestimmt. Andrew wird ihn so nie mitbekommen. Falls es nötig werden sollte, etwas davon an ihn weiter zu kommunizieren, werden die Formulierungen natürlich anders ausfallen. Natürlicher und lebensechter. Aber wenn ich für mich selber Klarheit gewinnen möchte, ist dieser Prozess für mich einfach unbezahlbar und IMMER wirksam.

Ich gebe erst einmal mir selber Einfühlung:
1. Was ist die Situation? Man muss die Situation so neutral wie möglich beschreiben, als wenn man eine Maschine, eine Videokamera wäre, die nicht in der Lage ist, irgendeine Bewertung der Situation von sich zu geben.
2. Wie fühle ich mich in dieser Situation oder wenn ich jetzt an diese Situation zurückdenke? Hier besteht die Herausforderung, wirklich nur Gefühle und nicht irgendwelche Bewertungen von sich zu geben. Das ist wirklich schwierig.
3. Auf welche unerfüllten Bedürfnisse weisen meine Gefühle? Auch hier muss ich darauf achten, die Bedürfnisse nicht mit Bewertungen zu verwechseln.
4. Ich finde eine neue Strategie für meine unbefriedigten Bedürfnisse. Dies mache ich, indem ich eine konkrete und handlungsorientierte Bitte an ihn oder an mich selber richte.

Und jetzt gebe ich ihm Einfühlung (ohne, dass der Glückliche etwas davon weiß)
1. Was ist die Situation aus seiner Sicht.
2. Wie könnte er sich in dieser Situation fühlen?
3. Auf welche unerfüllten Bedürfnisse könnten seine Gefühle hinweisen?
4. Was könnte seine Bitte an mich oder an sich selber sein?
Was war also die Situation?
Andrew schaut Fernsehen, während ich in der Küche das Essen für das Thanksgiving-Treffen seiner Familie vorbereite.
Wie fühle ich mich, wenn ich jetzt an diese Situation denke?
Frustriert und total sauer! Erstens verdient der Mann einiges mehr als ich. Wir teilen alles 50/50 aber diese blöden Essen für seine Eltern und Geschwister und seine 3 Kinder und 7 Neffen und Nichten zahle ich alleine. Ich könnte jemanden beißen, wenn ich nur daran denke. Ich finde das so ungerecht. Das ist so ein typisches Männer/Frauen Ding. Ich hasse diese Männer/Frauen Dinge. Als wenn die Frauen weniger wert wären. Nichts verachte ich mehr als Männer UND Frauen, die solche ungerechten Situationen erschaffen. Und, hoppla, hier bin ich, mitten in so einer Situation drin.UND ich bin hier gerade total am bewerten. Etwas, was ich eigentlich nicht tun sollte, was aber unvermeidlich ist, wenn man gefühlsmäßig noch drin steckt. 
Ist auch nicht weiter schlimm. Wie fühle ich mich also, wenn ich denke, dass etwas ungerecht ist und ich irgendwie minderwertig bin? Machtlos, klein und auch traurig.
Auf welche unerfüllten Bedürfnisse weisen diese Gefühle hin?
Ich fühle mich machtlos, klein und traurig, weil ich denke, dass Jim mich nicht respektiert. Ich brauche Respekt. (Überraschenderweise brauche ich keine Unterstützung. Das war eigentlich meine erste Vermutung gewesen, bevor ich diesen Prozess angefangen hatte).
Was wäre also meine konkrete und handlungsorientierte Bitte an ihn und/oder an mich?
Meine Bitte an ihn wäre: Bitte hilf mir beim Kochen und lass uns die Kosten teilen.
Meine Bitte an mich wäre: Karina, frage Jim, ob er dir nicht helfen und einen Teil der Kosten mittragen könnte. (Etwas, was ich bis jetzt noch gar nicht gemacht hatte, wie mir gerade auffällt).

Und jetzt gebe ich ihm die Einfühlung, die ich mir gerade gegeben habe. Ich fühle mich tatsächlich schon etwas besser. Ich bin nicht mehr so sauer, sondern eher traurig. Und ich fühle mich nicht mehr machtlos, da ich mir gut vorstellen kann, die Bitte (die so simpel ist, auf die ich aber in den letzten zwei Jahren einfach nicht gekommen bin) an Andrew heranzutragen.

Für ihn sieht die Situation, wie folgt aus: Er sitzt im Sessel und guckt Sport.
Wie fühlt er sich? Prima. Er ist entspannt und hat Spaß, da er keine Ahnung hat, dass sich in der Küche nebenan ein Gewitter zusammenbraut.
Auf welche unerfüllten Bedürfnisse weisen seine Gefühle hin? Auf gar keine. Ihm geht es ja gut
Und er hat auch keine Bitte an mich. 

Fakt ist, dass er vollkommen ahnungslos ist. Das, was mich stört, wird in seiner Familie schon immer praktiziert. Wann immer ich auf diesen Familienzusammenkünften bin, sind es nur die Frauen, die kochen, den Tisch decken und die Küche sauber machen. Es scheint für ihn das normalste der Welt zu sein. Wenn ich daran etwas ändern möchte, muss ich ihm das sagen. Von selber wird er nicht auf die Idee kommen. 

Nachdem ich alles aufgeschrieben habe, fühle ich mich vollkommen anders. Es ist mir unbegreiflich, warum ich in der ganzen Zeit nicht schon auf die Idee gekommen bin, ihm zu sagen, was ich mir von ihm wünsche. Ich hatte irgendwie immer darauf gewartet, dass er selber auf die Idee kommen wird. Aber wie kann er auf eine Idee komme, wenn doch die Situation für ihn die normalste der Welt ist? Schließlich kann er doch keine Gedanken lesen, oder?

Prima. Ich werde es ihm bei der nächsten Gelegenheit sagen. Weihnachten ist ja nicht mehr fern.

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