Dienstag, 15. September 2015

Esssucht: Den Tiger mehrmals täglich aus dem Käfig lassen

Jeder Bissen, den ich zu mir nehme, birgt die Gefahr, dass er bei mir eine Essattacke auslösen kann. Es gibt nur einen Weg, der für mich funktioniert, um ein gesundes Essverhalten dauerhaft beizubehalten: Ein Essplan.

Wenn ich eine Tüte Chips anfange, kann ich nicht aufhören bevor sie nicht leer ist. Wenn ich eine Tafel Schokolade vor mir liegen habe, kann ich mir noch so oft vornehmen, nur einen Riegel zu essen - ich werde immer die ganze Tafel verputzen. Das hört sich bestimmt auch für Nicht-Esssüchtige ziemlich normal an. Aber bei mir ist es nie bei nur einer Tüte oder einer Tafel geblieben.

Natürlich hatte ich immer mehr als nur eine Tüte oder eine Tafel im Haus. Jedes Mal, wenn ich beim Einkaufen 10 Tafeln Schokolade und mindestens sechs Tüten Flips in meinen Einkaufswagen legte, redete ich mir ein, dass das nur mein Vorrat für die nächsten Wochen sein sollte. Im Supermarkt bin ich immer fest davon überzeugt gewesen, dass ich in Zukunft nur noch ein paar Handvoll Flips oder ein oder zwei Riegel Schokolade auf einmal essen würde. Jeden Zweifel über diese mir vollkommen fremde Charakterstärkte wischte ich energisch weg. Mit dem Ergebnis, dass ich meistens bereits am Abend des Einkaufstages die Hälfte meiner hochkalorischen Einkäufe "vernichtet" hatte.

Zwei oder drei Tage später musste ich dann wieder zum Supermarkt, um mich mit Knabberzeug einzudecken. Dann redete ich mir vielleicht ein, dass ich deswegen so viel einkaufen musste, falls irgendwann mal Gäste vorbei kommen sollten.

Esssucht gehört meiner Meinung nach zu den stofflichen Süchten, genau wie Alkoholismus. Therapien und Selbsthilfegruppen können für einen Esssüchtigen emotional und mental zwar durchaus hilfreich sein aber bei einer stofflichen Sucht scheint das alleine nicht zu helfen.

Esssüchtige müssen sich ihrem Suchtmittel enthalten, genau wie andere stofflich Abhängige auch. Aber auch wenn es sehr schwer für einen Alkoholiker ist, sich vollkommen dem Alkohol zu enthalten, so scheint es für den Esssüchtigen unmöglich zu sein. Wie kann sich ein Esssüchtiger vollkommen seinem Suchtmittel, dem Essen, enthalten? Das geht doch gar nicht!

Die Lösung, die ich gefunden habe und die auch für viele andere funktioniert, ist: Klare Essregeln, die NIEMALS gebrochen werden dürfen.

Die Erfahrung zeigt, sobald ein Esssüchtiger Ausnahmen bei seinen Essregeln macht, findet er Ausreden für weitere Ausnahmen und dann werden die Ausnahmen zur Regel. Bald hat er/sie alles, was zuvor an Gewicht abgenommen wurde, wieder zugenommen.

Ich nehme drei Mahlzeiten am Tag zu mir ein und für mich heißt das, dass ich drei Mal täglich den Tiger aus dem Käfig lassen muss. Jede Mahlzeit ist eine Gratwanderung für mich. Jede Mahlzeit beinhaltet die Gefahr, dass ich mich überesse. Aber Mahlzeiten auszulassen bedeuten die gleiche Gefahr. Hunger kann zu einer Fressattacke führen.

Ich überlasse beim Essen nichts dem Zufall. Ich plane am Tag vorher minutiös voraus, was, wann und wie viel ich essen werde. Ich verzichte dabei vollkommen auf Mehl- und Zuckerprodukte und wiege sogar alles grammgenau ab. Seitdem ich das mache, geht es mir fantastisch! Ich halte alle meine Essregeln ein und habe mein lebenslanges Übergewicht abgenommen und halte mein Gewicht seit über sechs Jahren. So etwas habe ich vorher noch nie geschafft. Und das Geheimnis ist: Essregeln - ohne Ausnahmen.

Ich weiß, wie extrem sich das anhört. Ich habe, als ich das erste Mal davon gehört habe, nur den Kopf geschüttelt und gedacht, dass sich nur Zwangsneurotiker so etwas Verrücktes ausgedacht haben konnten.

Aber dann traf ich Leute, ganz normale Menschen, die das schon seit Jahren machten und die tatsächlich glücklich damit waren.

Denn es gibt eine menschliche Eigenschaft, die so eine Lebensweise enorm unterstützt: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Wir gewöhnen uns an alles, nicht nur an schlechte Gerüche (wenn man mal den Geruch eines Stinktiers ausnimmt). Man gewöhnt sich tatsächlich auch an ein derartiges kontrolliertes Essverhalten. Es fühlt sich heute vollkommen natürlich für mich an. Es ist zum Teil des Alltags geworden.

Esssucht ist eine Krankheit, die einer Medizin bedarf: Abstinenz vom Über- oder Unteressen. Und diese Medizin braucht einen Löffel oder eine Spritze, um sie einnehmen zu können: Einen Essplan.

6 Kommentare:

  1. Hallo Karina, interessanter Artikel! Bin auch der Meinung das man so eine Essstörung besiegen kann. Allerdings verführen doch verbote auch immer wieder dazu, diese zu brechen. Und woher weißt du , dass du die richtige kalorien Menge zudirDir nimmst?
    Lg

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    1. Hallo LG,

      wie schön, dass dir mein Artikel gefällt.

      Mein Essplan beruht auf den Erfahrungen vieler anderer, die bereits lange vor mir abstinent wurden und die sich auch von Ernährungsberatern haben helfen lassen. Aber da jeder Körper ein wenig anders ist, wird auch jeder Essplan individuell angepasst. Ich richte meine Kalorienmenge ganz einfach danach, was mir meine Körperwaage sagt. So lange ich mein Gewicht halte, ist es nicht notwendig, etwas an meinem Plan zu ändern, oder?

      Und ich verstehe vollkommen, was du mit den Verboten meinst - ganz besonders in Bezug auf Essverbote. Außerdem wird uns ja in unserer Gesellschaft andauernd vermittelt, dass gesundes Essen heißt, dass man alles essen darf - aber eben nur in Maßen.

      Aber das war genau die Krux bei mir. Beim Essen kenne ich kein Maß. Wenn ich konnte, aß ich soviel bis ich mich nur noch ins Bett rollen konnte.

      Ich glaube, einer der Gründe dafür, dass ich mit diesen strikten Essregeln leben kann, liegt darin, dass ich vorher alles mögliche in meinem Leben ausprobiert habe. Und nichts davon hat mir geholfen, mein Übergewicht abzunehmen, geschweige denn irgendeine Gewichtsabnahme zu halten.

      Dieser Essplan ist wirklich das einzige, was für mich jemals funktioniert hat. Ich mache das jetzt seit acht Jahren und ich bin echt nicht die einzige, der es so geht. Es gibt tausende andere Ex-Dicke, die genauso leben wie ich.

      Man hört davon nur nichts, weil kein Mensch daran Geld verdient. Es wird keine Werbung gemacht, keine Industrie, die sich am Leid der Menschen gesund stößt. Einfach nur Menschen, die sich bestimmter Dinge enthalten.

      Viele Grüße,
      Karina

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  2. Vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Inwieweit leidet da die Spontanität und der soziale Kontakt datrunter? War das am Anfang sehr schwer für dich? Ich würde es gerne mal versuche, habe aber meine bedenken inwieweit ich mir damit meine Freunde beim essen mit anderen versaue.

    Lg

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    1. Ja, die sozialen Kontakte. Das war am Anfang gar nicht mal so leicht. Für mich war das Essen ja mit ALLEM in meinem Leben verbunden. War ich traurig, musste ich mich mit essen trösten. War ich glüclich, musste das mit Essen gefeiert werden. Und natürlich war jede Feier, jeder Feiertag, Fete, jedes Zusammenkommen mit Freunden und Familie auch immer ans Essen gebunden.

      Und dann tauchte ich plötzlich immer mit meiner Tupperware auf. Ich brachte mir entweder mein eigenes Essen mit oder ich aß meine Mahlzeit bevor ich zu so einer Feier ging oder eben danach.

      Das war schon sehr merkwürdig für mich, denn ich fühlte mich getrennt von den anderen. Ich fühlte mich wie eine Aussenseiterin. Aber dann machte ich die Erfahrung, dass es den anderen so ziemlich egal war, was ich aß, solange ich ihnen keine Vorschriften machte. Und ich gewöhnte mich nach einer Weile daran, dass ich eben nicht dasselbe aß, wie die anderen.

      Wenn ich jetzt Heiligabend feiere ist mir das Essen eigentlich ziemlich egal geworden (früher ging es mir NUR darum, einfach alles zu essen, was ich mir in den Monaten zuvor vielleicht verboten hatte. Schließlich war ja Weihnachten. Da war so etwas doch erlaubt,oder?) Mir geht es jetzt bei solchen Zusammenkünften darum, das Zusammensein mit meinen Freunden oder mit meiner Familie zu genießen. Und DAS kann ich sehr gut ohne Zuckerkram tun.

      Wenn du versuchen möchtest, was ich tue, dann brauchst du dabei Unterstützung. Esssüchtige sind besondere Süchtige. Sie sind die einzigen Süchtigen, die ihr Suchtmittel weiterhin zu sich nehmen müssen, um gesund weiterleben zu können. Und das schafft keiner alleine.

      Nicht-Esssüchtige können ihr Essverhalten allerdings ändern und trotzdem hier und da Ausnahmen machen, ohne dass sie das irgendwie umhaut. Ich sehe das an meinem Mann. Er isst jetzt auch kein Mehl und Zucker mehr, außer wenn es eben irgendwelche Feiern gibt. Am nächsten Tag kann er dann einfach wieder so gesund essen wie immer.

      Ich könnte das nicht. Ich weiß, dass ich nach einer Ausnahme noch eine Ausnahme und dann noch eine machen würde. Und bald hätte ich wieder meine ganzen 80 kg drauf.

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  3. Hallo Karina,

    dein Artikel hat mich sehr angesprochen und auch sehr viel Angst in mir ausgelöst. Angst vor erneutem Versagen - es mal wieder nicht geschafft zu haben. Ich habe alle Diäten schon durch, keine war erfolgreich. Auch ein Magenband, dass ich vor einigen Jahren bekam war umsonst. Ich traue mir selbst nicht mehr über den Weg. Und doch spüre ich, dass ich Hilfe brauche. Mit OA kam ich irgendwie nicht so zurecht und FAA scheint es in Deutschland nicht zu geben, oder doch?

    Was würdest du mir raten? Ach ja, ich habe ca. 60 kg Übergewicht, spiele also durchaus in deiner Ex-Liga ;-)

    Danke und herzliche Grüße

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    1. Das hört sich sehr vertraut für mich an, mit Ausnahme des Magenbandes. Ich habe mich nie überwinden können, irgendeine OP an mir vornehmen zu lassen, da ich einfach WUSSTE, dass mich so etwas nicht vom Überessen abhalten würde können.
      So wie du dich beschreibst, könnte es sein, dass du süchtig nach Mehl, Zucker und/oder großen Mengen bist. Ich würde vorschlagen, dass du erst mal auf diese Seite gehst
      http://www.foodaddicts.org/deutsch
      und die 20 Fragen beantwortest, die in der Broschüre von FA aufgelistet sind. Und wenn du möchtest, dann können wir uns danach vielleicht eher privat unterhalten? Schreib mir einfach eine Email an karina@howtobenow.com. Ich weiß genau, wie du dich fühlst.

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