Sonntag, 28. Juni 2015

Single, fett, hässlich, alt und blöde - Wie wird man bloß Minderwertigkeitskomplexe los?

Wenn das bloße Wegwünschen von Komplexen möglich wäre, hätten wir heute eine viel schönere Welt. Leider ist es oft ein langer Weg sich von einer unsicheren Persönlichkeit zu einem selbstbewussten Menschen zu entwickeln. Aber es ist möglich.

Den größten Teil meines Lebens hatte ich Minderwertigkeitskomplexe (Gott, mir ist noch nie aufgefallen, was für ein langes Wort das ist). Ok, als ich zwanzig war, dachte ich noch nicht, dass ich alt war, aber das kam dann später in meinen Vierzigern dazu. Im Moment habe ich ungefähr acht Freundinnen, die sich vielleicht auch heute noch mit mindestens drei der Attribute der Überschrift identifizieren würden.

Als ich damals noch so über mich dachte, ging es mir nicht sonderlich gut damit. Jedes einzelne Adjektiv tat mir weh, wenn es in Bezug auf mich irgendwo in meinem Hirn auftauchte. Und sie tauchten dort oft auf.

Aber wie konnte ich so etwas denn auch nicht denken? Schließlich waren das doch eigentlich wertfreie Aussagen der Realität, oder? Schließlich war ich objektiv gesehen Single, fett und darum auch hässlich. Aber Realität hin oder her, ich wollte nicht mehr unter ihr leiden. Warum konnte ich nicht einfach viel neutraler gegenüber dieser "Realität" sein? Warum überkam mich jedes Mal, wenn ich über mich nachdachte, der unüberwindbare Wunsch, mich ins Bett zu legen und zu einer Kugel unter meiner Bettdecke zusammenzurollen?

Bereits als Teenager verfiel ich den Selbsthilfebüchern. Verzweifelt erhoffte ich mir Hilfe von allen möglichen Ratgebern. Klar, viele beschäftigten sich mit dem Abnehmen, aber genauso viele handelten einfach nur davon, wie man ein glücklicherer Mensch werden kann. Ich probierte alle Tricks aus, damit ich endlich ein besseres Selbstbewusstsein bekommen konnte, wenn ich schon nicht schlank, schön und intelligent werden konnte.

Eine der oft geratenen Strategien war, mir selber einzureden, dass ich schön, schlank und mit Traummann gesegnet sei. Das sollte dem Unterbewusstsein etwas vorgaukeln, was noch gar nicht da war. Wenn das Unterbewusstsein es dann glauben würde, würden sich meine Wünsche vielleicht sogar erfüllen.

Also habe ich eine Zeitlang jeden Morgen Herrenduft in meinem Bad versprüht, mir eine zweite Zahnbürste in mein Zahnputzglas gestellt und extra Handtücher bereit gelegt. Der zweite Kaffeebecher auf dem Küchentisch sollte auch seinen Teil zur Illusion eines Lebensgefährten dazu beitragen.

Aber irgendwie funktionierte das nicht. Weder fühlte ich mich besser als Single, noch war mein Traummann in Sicht.

Ich habe mich auch mal wochenlang schlank visualisiert. Jeden Abend, nach der Arbeit, setzte ich mich auf mein Sofa und legte eine Schlank-Sein-Visualisierung-CD ein. Mit dem Ergebnis, dass ich nach jeder dieser von sphärischer Musik begleiteten Meditationen in die Küche stürzte, um das nächst beste Hochkalorische in mich hineinzustopfen.

Das Blöde bei diesen Versuchen war, dass ich mich nach solchen Übungen eigentlich noch schlimmer fühlte als vorher.

Obwohl ich damals so schlechte Erfahrungen gemacht habe, glaube ich ja heute wieder an die Kraft der Visualisierung oder besser an die Macht der Fokussierung. Ich weiß jetzt, dass das Unterbewusstsein nicht so einfach mit schönen Bildern zu übertölpeln ist. Wenn du 155kg wiegst, glaubt dir auch nicht das naivste Unterbewusstsein deine Visualisation von einem schlanken Körper. Denn der Verstand kann dabei nicht außen vor gelassen werden. Erst wenn Verstand und Unterbewusstsein an einer Strippe ziehen, kann etwas daraus werden.

Vielleicht hätte ich damals eher visualisieren sollen, wie ich 5 Pfund abnehme, statt mich als schlankes und sportliches Wesen zu sehen. Aber ich glaube, das hätte mir auch nicht geholfen. Denn selbst 5 Pfund abzunehmen, erschien mir meistens als ein Ding der Unmöglichkeit.

Dann entdeckte ich mit Anfang Dreißig Byron Katies "The Work" und benutzte ihre Methode erst einmal dazu, meine Glaubenssätze rund um mein Single-Dasein zu ändern. Und das funktionierte dann tatsächlich! Ihre Methode baute nämlich vollkommen auf meinen logischen Menschenverstand. Ich setzte meinen Verstand ein, statt zu Klimpermusik zu meditieren, und konnte meine Selbstabwertung zu diesem Thema vollkommen neutralisieren.

Ich konnte fortan daran denken, dass ich Single war, ohne dabei gleich in eine mittelschwere Depression zu stürzen. Ich war Single, na und? Ich war auch blond und das war genauso wenig tragisch. Na gut, ein klein wenig Traurigkeit darüber, dass ich keinen Freund hatte, konnte ich nicht vollkommen wegmendeln, aber das war KEIN Vergleich zu dem was ich davor immer empfunden hatte. Ich war frei, weil ich den Umstand, dass ich Single war, nicht mehr als Wertaussage über mich benutzte. Das war toll!

Leider funktionierte "The Work" nicht in Bezug auf mein Übergewicht und den begleitenden negativen Emotionen. Da konnte weder mein Verstand noch mein Unterbewusstsein bewusst etwas verändern.

Tatsächlich war die Entdeckung der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) für mich der Anfang vom Ende meiner Minderwertigkeitsgefühle. Die GfK gab meiner Mauer aus selbstdiskriminierenden Urteilen den Todesstoß, auch wenn es einer in Zeitlupe war. 

Unter Anderem lernte ich, dass ich für alles, was ich tat, einen guten Grund hatte. Also auch für meine Selbstbeschimpfungen. Sie waren ein verquerer Ausdruck von Selbstfürsorge und sie beschützten mich. Sie sorgten dafür, dass ich mich so wenig wie möglich Situationen aussetzte, die mir Angst machten. Die GfK lehrte mich genau diese Ängste anzugehen. Ich wurde glücklicher. Ich glaube einige meiner Freunde und meine Familie wurden auch glücklicher mit mir, weil ich anfing auch mit ihnen besser umzugehen.

Ich war immer noch dick, hässlich und Single aber es störte mich im Laufe der Zeit weniger. Denn meine Ängste und Selbstanschuldigungen wurden immer schwächer.

Und dann nahm ich doch noch all mein Gewicht ab - ganz ohne Visualisation.

Keine Ahnung, wie andere es schaffen, ihre Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden. Aber ich glaube bei niemanden ist das eine schnelle Geschichte. So etwas braucht leider eine ganze Weile, um geheilt zu werden.

Aber es ist möglich, wenn wir nicht aufhören, nach einer Methode zu suchen, die uns guttut.

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