Es geht mir gut, denn ich achte darauf, dass es mir gut geht. Wenn ich mit Freunden oder Familie zusammen bin, kann ich mich selber wahrnehmen und gleichzeitig deren Gefühle berücksichtigen. Warum habe ich dann aber trotzdem ein schlechtes Gewissen? Warum sagt mir eine innere Stimme, dass ich mein Wohlergehen nicht so schrecklich wichtig nehmen sollte und NUR auf die Bedürfnisse meiner Mitmenschen reagieren sollte?
Ich bin Einzelkind und meine Mutter war alleinerziehend. Ich musste funktionieren, ansonsten hätte sie nie die Abendschule und dann die Uni besuchen können. Es war ihr wichtig, eine gute Ausbildung zu bekommen, auch wenn sie sich diese, bedingt durch die Nachkriegswirren, auf dem zweiten Bildungsweg besorgen musste.
Ich funktionierte so gut, weil meine Mutter mir beibrachte, dass ich die Bedürfnisse Anderer vor meine eigenen Bedürfnisse zu stellen hatte. Sie selber versuchte das so mit mir, ihren Lebensgefährten, ihrer Mutter und ihren Schwestern zu praktizieren. Egoismus war für sie ein unsozialer Charakterzug. Sie war davon überzeugt, dass man nur friedlich miteinander leben konnte, wenn man sich stets bemühte, seine Mitmenschen glücklich zu machen.
Also ging ich durch mein Leben im Bewusstsein, dass ich gut darauf achten musste, was die anderen brauchten. Meine Mutter brauchte eine gehorsame und anpassungsfähige Tochter. Sie bekam sie (meistens). Meine Oma wollte eine stille Enkelin, die sich nur mit sauberen Händen in ihr Haus wagte und sie bekam sie. Meine Freundinnen brauchten eine gute Zuhörerin - also lernte ich richtig zuzuhören.
Nun gab es da aber ein Problem. Egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte es nicht allen Menschen recht machen. Mein Vater wollte eine hübsche Tochter haben - die konnte ich ihm nicht bieten. Meine Lehrer wollten eine unkomplizierte und fleißige Schülerin haben - ich war unvorstellbar fleißig in der Schule und schrappte trotzdem oft an der Nicht-Versetzung vorbei. Bei den Gleichaltrigen konnte ich mir nie darüber klar werden, was sie von mir wollten. Ich vermutete auch hier, dass sie mich hübsch haben wollten - aber das kriegte ich nicht hin, so sehr ich auch diätete. Wann hatte ich zu lächeln, aufzuspringen, höflich zu sein, anderen gefällig zu sein? Was wurde von mir erwartet? Nicht immer sagten die Menschen, was sie wollten. Oft waren es nonverbale Signale, die ich krampfhaft versuchte aufzuspüren.
Die Folge davon war, dass ich mich von den Menschen so weit wie möglich in eine Traumwelt von Büchern flüchtete. Ich war vollkommen überfordert darin, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Ich fühlte mich unfähig, falsch und einsam. Und ich hatte Schuldgefühle, denn wahrscheinlich bemühte ich mich einfach nur nicht genug. Jede Begegnung war anstrengend für mich, denn einerseits wollte ich meinen Mitmenschen gefällig sein und andererseits wehrte ich mich auch dagegen. Eigentlich wollte ich einfach nur glücklich sein. Aber das schien unmöglich in Gegenwart anderer Menschen. Wann immer ich Freunde und Familie traf, brauchte ich danach Tage der Erholung von dem inneren Stress in der Einsamkeit meiner Wohnung.
Dabei war es noch nicht einmal so, dass die Menschen irgendwelche besonderen Dienstleistungen von mir erwarteten. Aber meine Haltung, meine Annahme, dass sie wichtiger waren als ich und dass ich ein schlechter Mensch war, wenn ich sie NICHT wichtiger nahm als mich, machte mich fix und fertig.
In der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg hörte ich endlich etwas, was mein Leben verändern sollte: Alle Bedürfnisse eines jeden Menschen sind absolut gleichviel wert. So war z.B. das Bedürfnis meiner Mutter nach Nähe zu mir nicht mehr wert als mein Bedürfnis nach Ruhe. Alle Bedürfnisse verdienen es gleichviel, erfüllt zu werden. ABER: Nur wenn ich mir meine Bedürfnisse zuerst erfülle, habe ich die Kapazität, mich um Andere zu kümmern.
Als ich lernte, dieses Prinzip in meinem Leben anzuwenden, verschwand meine Angst vor Menschen und mein Verhältnis zu meiner Mutter ist seither ein Traum. Mein Zusammensein mit Freunden und Familie ist jetzt von Leichtigkeit geprägt, denn ich verliere nicht mehr den Kontakt zu mir selber, wenn ich mit ihnen zusammen bin. Ich bin mir immer ziemlich klar, was ich brauche. Wenn das, was ich brauche im Konflikt mit den Bedürfnissen meiner Mitmenschen steht, dann verhandele ich mit ihnen darüber. Denn eins ist klar: Wenn ich mit anderen Menschen nette Zeiten verleben möchte, muss ich ihre Gefühle mit in mein Leben einbeziehen.
Ich kann machen, was ich will, solange ich mir darüber klar bin, was ich wirklich brauche. Und eins der Dinge, die ich brauche, ist z.B. Harmonie mit den Menschen um mich herum. Also muss ich meine Aktionen, wenn ich die Harmonie haben möchte, daraufhin abwägen, ob sie auch meine Mitmenschen mit einbeziehen. Es ist ein Balanceakt. Aber einer, bei dem ich immer eine Rolle spiele.
Also, ist das jetzt Egoismus? Und warum stelle ich mir diese Frage immer wieder?
Ich habe Angst, dass, wenn ich zu sehr auf mich achte, ich die Menschen um mich herum aus den Augen verliere. Es scheint sich irgendwie falsch anzufühlen, immer mein Wohlergehen im Auge zu behalten. Aber hier kommt mir Wikipedia zu Hilfe. Laut dem Nachschlagewerkt ist Egoismus eine Handlungsweise, bei der einzig der Handelnde selbst die Handlungsmaxime bestimmt. Dabei hat diese Handlung zumeist uneingeschränkt den eigenen Vorteil des Handelnden zum Zweck.
Solange ich versuche, mein Zusammenleben mit Hilfe der Gewaltfreien Kommunikation zu regeln, werde ich nach Wikipedias Definition noch nicht einmal in die Nähe des Egoismus kommen. Heißt das, dass ich immer alle glücklich machen werde? Nein. Aber es heißt, dass ich gut auf mich achten muss, ohne dabei die Gefühle der Menschen, die mich umgeben, aus den Augen zu verlieren.
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