Samstag, 8. August 2015

Was ist eigentlich Esssucht?

Mir ist die letzten Tage etwas bewusst geworden: Ich erwähne oft in meinem Blog, dass ich noch vor ein paar Jahren sehr übergewichtig war. Vielleicht benutze ich hier und da auch mal das Wort Esssucht. Aber eigentlich bin ich diesem Thema in meinem Blog bis jetzt immer ein wenig aus dem Weg gegangen. Dabei ist es mir so ein großes Anliegen, zu verbreiten, dass es so etwas tatsächlich gibt. Dieses Anliegen ist mir sogar so wichtig, dass ich ein Buch darüber geschrieben habe (aber noch nicht veröffentlicht).

Was ist also Esssucht?
Es gibt auf der Webseite der Overeaters Anoymous eine Checkliste, die ich sehr hilfreich finde, wenn jemand sich nicht sicher ist, ob er/sie einfach nur schlechte Essgewohnheiten hat oder wirklich süchtig nach Essen ist.

Die Esssucht hat viele Gesichter. Genau wie Alkoholismus, sind die Symptome nicht bei jedem Menschen gleich. Manche Menschen können nicht aufhören zu essen, sobald sie damit angefangen haben, andere kotzen, sobald sie sich etwas Essbares in den Mund gesteckt haben, wiederum andere weigern sich überhaupt etwas zu essen. Aber uns allen ist eines gemeinsam: Die Besessenheit vom Essen. Egal ob Überesser, Bulimiker oder Magersüchtige - wir alle sind gedanklich ständig mit dem Essen beschäftigt. Andauernd sind wir dabei, mit uns irgendwelche Regeln auszuhandeln, wann wir was und wie viel essen können, nur um diese Regeln immer wieder zu brechen. Dann nehmen Schuldgefühle und Selbsthass einen so breiten Raum ein, dass sich manche dann am liebsten das Leben nehmen möchten.

Meistens funktionieren wir so halbwegs. Aber eigentlich nur gerade mal so.

So sieht meine Esssucht aus:
Seitdem ich zwanzig war, weiß ich, dass ich esssüchtig bin. Ich wünschte mir nichts mehr, als diese Sucht endlich loszuwerden. Bereits mit Anfang zwanzig war ich davon ausgelaugt, mir nach jeder qualvollen Diät dabei zuzusehen, wie ich alles wieder zunahm, was ich mir gerade so mühselig abgehungert hatte. Denn ich hatte keine - wirklich keine - Macht über mein Essverhalten. Selbst wenn ich manchmal monatelang meine Diäten einhalten konnte, musste ich ständig mit meinen Phantasien vom Essen und gegen meinen Essdruck ankämpfen. Und immer kam der Moment, wo ich eine "Ausnahme" in meinem Diätplan einbaute. Diese Ausnahme führte immer innerhalb kürzester Zeit zu weiteren Ausnahmen und dann zu richtigen Essattacken. Ich war diesen Attacken vollkommen hilflos ausgeliefert und musste mir zigmal dabei zusehen, wie ich mir in kürzester Zeit mein ganzes Gewicht wieder anfraß.

Wenn ich nicht gerade eine Diät machte, aß ich jeden Abend riesige Teller mit Pasta oder zwei Döner und dann noch Kuchen und/oder Eiscreme oder irgendetwas anderes Süßes. Diese Stunden waren mir heilig. Denn in keinem Moment meines Lebens fühlte ich mich so gut, wie in den Momenten, in denen ich am Kauen und Schlucken war. Darum konnte und wollte ich auch nicht mit dem Essen aufhören.

Aber irgendwann erreichte selbst mein überdehnter Magen mal sein Limit. Ich konnte mich kaum bewegen und fühlte mich wie betäubt. Mein ganzer Körper konzentrierte sich auf die riesigen Mengen, die ich gerade verzehrt hatte. Aber trotz der willkommenen Betäubung tauchten erst ganz leise und dann immer stärker Gefühle des Selbsthasses in meinem Bewusstsein auf. Ich kannte das ja schon. Sie kamen nie unerwartet. Aber irgendwie hoffte ich bei jeder Mahlzeit, dass es dieses Mal nicht passieren würde.

Wenn ich mich dann nach so einem Gelage, dass normalerweise fast jeden Abend stattfand, zum Bett schleppte, nahm ich mir jedes Mal, wirklich jedes Mal, vor, dass ich am nächsten Tag ganz anders essen würde. Ich würde nur gesunde Sachen und kleine Portionen zu mir nehmen. Schließlich wusste ich ja ganz genau, was und wie viel ich essen musste, um abzunehmen. Meine Verzweiflung und mein Selbsthass waren fast unerträglich. Jeden Abend glaubte ich, dass ich ES ENDLICH FÜR IMMER BEGRIFFEN hatte und ab dem nächsten Tag nur noch kleine und gesunde Portionen zu mir nehmen würde.

Am nächsten Morgen merkte ich allerdings schon beim Frühstück, dass mein Entschluss wankte. Ich diskutierte mit mir, dass ein Nutellabrötchen ja nicht so viel ausmachen könne. Außerdem hasste ich es, Lebensmittel wegzuschmeißen. Wäre doch zu schade um das Nutella, oder? Wie wäre es, wenn ich erst einmal meine Vorräte leer essen würde und dann mit dem gesunden Essen beginnen würde? Und so ging es den ganzen Tag weiter. Bis ich mich dann abends wieder vor dem Fernseher mit Bergen von Essen vorfand.

Manchmal schaffte ich es doch tagsüber ganz brav nur zwei Stullen zum Mittag zu essen. Aber spätestens auf dem Nachhauseweg konnte ich dem Drang, beim nächsten Dönerstand halt zu machen, nicht widerstehen.

Und so ging es immer weiter und weiter und weiter, unterbrochen von Diäten, bei denen ich sogar noch mehr ans Essen dachte als sonst, da ich ja alles, was ich so liebte, nicht essen durfte.

Essen war für mich der beste Freund auf dieser Welt. Essen gab mir Wärme und Geborgenheit. Essen gab mir auch Sinnlichkeit. Ich weiß, dass sich das Paradox anhört, denn ich hasste mich wegen meines Körpers so sehr, dass ich keine intime Beziehung zu einem Mann ertragen konnte. Aber wenn ich aß, war es, als wenn ich endlich einmal meinen Körper positiv spüren konnte, was zwar nichts mit Sexualität zu tun hatte, aber viel mit Sinnlichkeit.

Essen tröstete mich. Essen verband mich mit Freunden. Essen liebkoste mich. Essen gab mir Sicherheit, wenn ich unsicher war und Wärme, wenn ich mich einsam fühlte. Der Gedanke, nicht mehr mein Essen zu haben, hieß für mich, zu sterben. Denn dann würde ich alles, was noch Gut in meinem Leben war, verlieren. Denn was blieb dann noch übrig? Ich hatte keinen Mann, keine Kinder, keine Familie (außer meiner Mutter). Zwar hatte ich Jobs, aber keine Berufung. Kurzum, tief im Inneren glaubte ich, dass mein Leben ohne das Überessen an meinen Lieblingsgerichten nicht wirklich lebenswert war.

So fühlte es sich für mich an, als ich meine Sucht auslebte. Obwohl das nur ein kleiner Ausschnitt meines süchtigen Selbst ist, kann vielleicht ein nicht Esssüchtiger jetzt besser verstehen, dass dies wirklich eine Sucht ist. Genauso schlimm wie Drogen- oder Alkoholsucht.

Ich habe in meinem Leben gelernt, dass es mehrere Wege gibt, dieser Sucht Herr zu werden. Ich habe einen Weg gefunden, der sich für alle erst einmal ungeheuer extrem, manche meinen sogar ungesund, anhört. Aber er funktioniert für mich fantastisch und das seit mehr als 8 Jahren.

Ich nehme nur drei Mahlzeiten zu mir, nichts dazwischen, und vermeide unter allen Umständen jede Form von Zucker und Mehlprodukten. Außerdem wiege ich jede Mahlzeit grammgenau ab, da ich in den Jahrzehnten meiner Sucht jedes Körpergefühl für die richtige Menge (vom Augenmaß mal ganz zu schweigen) verloren habe.

Diese Disziplin (die sich für mich allerdings schon lange nicht mehr wie Disziplin anfühlt, sondern als wenn das ganz natürlich wäre - der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier) kann aber keiner ohne ein wirkungsvolles Unterstützungssystem in sein Leben implementieren. Ich bin ständig in Kontakt mit Menschen, die genauso süchtig sind wie ich und die sich für dieselbe Form der Abstinenz entschieden haben, wie ich sie lebe. Overeaters Anonymous (OA) und Foodaddicts in Recovery Anonymous (FA) bieten solch ein Unterstützungssystem, dass dazu auch noch kostenlos ist.

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Find this article also in Englisch- What is Food Addiction? - Die englische Version dieses Artikels

5 Kommentare:

  1. Sehr interessant! Toll das Du es geschafft hast!

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  2. Hallo Karina, finde deinen Blog sehr gut und freue mich über neue Artikel.
    Verzichtest du auf jegliche Suchtmittel also auch auf Kaffee? Heißt jeglicher Zucker auch chemische Süßungsmittel ?

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    1. Hallo. Tausend Dank für das Kompliment.

      Und zu deiner Frage:
      In den ersten Jahren habe ich auch auf jegliche künstliche Süßstoffe verzichtet. Zu oft hatte ich von anderen gehört, dass die künstlichen Süßstoffe für sie wie eine Einstiegsdroge für den richtigen Zucker waren.

      Vor ein paar Jahren habe ich aber ausprobiert, dabei wurde ich von jemanden aus meinem Programm begleitet, wie Diät-Cola und zuckerfreier Kaugummi auf mich wirken. Ich merkte, dass künstlicher Süßstoff auch eine ziemlich anziehende Wirkung auf mich hatte, darum machte ich mir auch nie etwas ins Essen rein.
      Die Diät-Limonade ließ mich, nach anfänglicher Begeisterung, ziemlich kalt. Ich trinke nur ab und zu mal was. Der Kaugummi ist schon eher eine Herausforderung. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu viel davon esse. Hier in den USA gibt es davon einfach unglaublich leckere Geschmackrichtungen. Aber da dieser blöde Süßstoff Krämpfe und Durchfall verursacht, wenn man zu viel davon ist, wird mir schon dadurch eine natürliche Grenze gesetzt.

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  3. Hallo Karina, vielen Dank für Deine schnelle Rückmeldung. Ich merke immer wieder bei mir das mich Zucker in jeglicher Art süchtig macht und jetzt weiß ich auch wodurch die Magenprobleme kommen- Süßstoff. Ich hätte nie gedacht das dass die Ursache sein kann. Ich werde das die nächsten Wochen noch beobachten.
    Mach auf jedenfall weiter mit dem Schreiben! Finde die Themen sehr gut und ich finde mich total oft wieder in Deinen Gedanken.
    Viele Grüße
    Melanie

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