Dienstag, 19. Januar 2016

Unsichtbar für Männer?

Wie kommt es, dass ich mich jetzt mit Normalgewicht oft immer noch genauso unsichtbar fühle, wie früher, als ich noch 155 kg gewogen habe?

Als ich dick war, wollte ich nur eins: unsichtbar sein. Ich schämte mich nicht nur dafür, wie ich aussah, sondern auch dafür, dass mir JEDER mein Problem ANSAH und sich sein Urteil darüber bilden konnte. So oft habe ich mir eine andere Sucht gewünscht - Alkoholismus, Heroin, Rauchen - egal was. Ich dachte, dass es schon eine Erleichterung sein müsste, wenn mir nicht jeder auf den Kopf zusagen konnte, das und was für ein Problem ich hatte.

Je dicker ich wurde, desto dringender wurde mein Wunsch nach Unsichtbarkeit aber desto mehr fiel ich natürlich auf. Ich wurde als Kind und als Erwachsene das Ziel von Spott und Diskriminierung. Und trotzdem wurde mir, in gewisser Hinsicht, mein Wunsch erfüllt. Ich wurde durch mein auffälliges Übergewicht trotzdem unsichtbar - für Männer.

Ich war für Männer also überhaupt nicht attraktiv. Es war ein merkwürdiges und schmerzliches Gefühl, nicht als Frau wahrgenommen zu werden. Aber trotzdem war das andererseits genau das, was ich wollte. Nach jahrzehntelangem Selbsthass war ich ja davon überzeugt, dass ich nicht liebenswert war und da ich mich auch megahässlich fand, konnte ich mit dieser Unsichtbarkeit leben.

Und dann wurde ich schlank . . . und blieb, zu meiner großen Überraschung, auch weiterhin für Männer unsichtbar.

Trotz meiner Highheels und dem tiefen Ausschnitt und den schönen Klamotten, die ich seit dem Erreichen meines Normalgewichts tragen konnte, blieb ich für Männer uninteressant. Das ist auch heute noch so. Natürlich bin ich keine 20 mehr aber ein wenig mehr Sichtbarkeit hatte ich in dieser Hinsicht eigentlich schon erwartet. Aber was ich auch machte, irgendwie kam nie ein Flirt zustande oder auch nur der Eindruck, dass Männer mich jetzt attraktiv finden könnten.

Aber ausgerechnet Andrew hat mich auf eine andere Spur gebracht. Für ihn bin ich ja überhaupt nicht unsichtbar. Und er hatte mich das von Anfang an so stark spüren lassen, dass es eine wahre Freude war. Aber trotzdem fiel mir auf, dass er anscheinend der einzige Mann auf dieser Erde ist, der mich als Frau wahrnehmen konnte und attraktiv fand. Nicht, dass mir das nicht genügen würde. Aber irgendwie würde ich so gerne hier und da mal von anderen Männern angeflirtet werden. Einfach nur so, ohne Konsequenzen. Ist das irgendwie komisch?

Jedenfalls weist mich ausgerechnet Andrew, wenn wir gemeinsam unterwegs sind, manchmal darauf hin, dass mal wieder ein Mann hinter mir her geguckt oder in den Ausschnitt gestarrt hat. Wann immer er mir so etwas sagt, gucke ich begeistert um mich herum, weil ich unbedingt sehen will, wer mich für interessant genug hält, um mich eines zweiten Blickes zu würdigen. Natürlich sehe ich dann nichts, weil die betreffenden Herren bereits weiter gegangen sind. Aber ich versuche dann eifrig weiter so unauffällig wie möglich meine Umgebung zu scannen, um mir solch einen erhebenden Moment nicht wieder entgehen zu lassen. Aber ich sehe nie, dass mich irgendein Mann mit irgendwelchem Interesse mustert. Es ist zum Eierlegen.

Einmal habe ich Andrew unterstellt, dass er mir solche Dinge nur sagt, weil er mir auf irgendeine verquere Art ein Kompliment machen will. Er guckte mich an, als wenn ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Dieser Gedankengang war ihm so fremd, dass ich ihm also seine Beobachtungen glauben musste.

Das heißt also, dass ich gar nicht so unsichtbar für Männer bin, wie ich geglaubt habe. Also muss irgendetwas mit meiner Wahrnehmung nicht richtig sein. Und dann erinnerte ich mich: Irgendwann in meinen Dreißigern, als ich mich mal wieder bei einer Freundin über meine Unsichtbarkeit bei Männern beklagte, hatte ich festgestellt, dass eigentlich ich diejenige war, die Männer gar nicht mehr als Männer ansah. Ich hatte mir angewöhnt, Männer als Neutren wahrzunehmen, um mich vor der Enttäuschung zu bewahren, dass keiner von ihnen Interesse an mir hatte. Und ich glaube, ich sehe sie heute eigentlich immer noch als Neutren (mit einer Ausnahme natürlich).

Wahrscheinlich müsste ich erst einmal Männer allgemein als attraktive Wesen wahrnehmen, um wahrnehmen zu können, dass ich auch für sie attraktiv sein könnte. Mal davon abgesehen, dass ich nicht weiß, wie ich diese Einstellung ändern soll, stellt sich ja noch eine ganz andere Frage: Ist mein Wunsch nicht ein wenig unangemessen? Schließlich lebe ich ja gerade in einer Beziehung. Zwar würde ich so gerne hier und da mal von anderen Männern angeflirtet werden, aber sollte mir der eine Mann, der mit mir zusammen lebt, nicht genügen?

Aber was soll ich machen. Irgendwie verspüre ich manchmal so ein Nachholbedarf für ein langes Leben als dicke und unattraktive Frau.

1 Kommentar:

  1. Liebe Karina, du musst mal nach Brasilien gehen...
    Es ist mit Sicherheit eine Frage der Kultur eines Landes... Schöne Grüße aus Brasilien,

    Cris

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