Freitag, 24. Juli 2015

Ballast abwerfen oder wie vergebe ich mir selbst?

Manchmal sind unerfüllte Sehnsüchte Versprechungen, die wir anderen und uns selbst gegenüber gemacht haben aber nie erfüllen konnten. Was wäre, wenn es möglich wäre, diese Versprechen an die betreffenden Personen zurückzugeben? Wären wir dann frei, unser eigenes Leben zu leben?

Ich habe mich vorgestern mit meinem jüngeren Ich getroffen. Ich kann das nur empfehlen!

Die 19 jährige Karina saß vor ziemlich genau 30 Jahren im Mövenpick am Kurfürstendamm alleine an einem der Kaffeetische und blickte auf den Kudamm. Ich erinnere mich noch genau, wie sehr sie sich in diesem Moment auf ihr kommendes Leben gefreut hatte. Sie war erfüllt vor Glück auf das Abenteuer Leben und ihre große Karriere als . . . nun, das wusste sie in diesem Moment noch nicht, aber sie war sich sicher, dass sie einen tollen und glamourösen Beruf haben würde.

Karina war in diesem Moment noch Single. Andrew würde sie erst ein halbes Jahr später kennenlernen. Sie hatte sich für ihre Abiturfeier zwei Monate zuvor eine Menge Gewicht abgehungert und sah daher auch so attraktiv wie noch nie zuvor aus. Sie war sich sicher, dass das Leben jetzt erst richtig anfangen würde. Keine Schule mehr und sie hatte ihre Immatrikulation für die FU in der Hand. Nur noch Freiheit. Bald würde sie bestimmt auch ausziehen können und dann endlich aus dem Schatten ihrer Mutter kommen. Die Freude, die Karina an diesem Nachmittag durchströmte, fühlte sich so berauschend wie Eierlikör an. Süß, schwindelig und soooooo lecker.

Und dann setzte ich mich, die 49 jährige Karina, zu ihr an den kleinen Tisch und obwohl es ein brillanter sonniger Frühlingstag war, wirkte der Raum plötzlich ein wenig grau und kühl.

Ich traf mich mit der jungen Karina, weil seit ein paar Tagen mal wieder dieser unendliche Schmerz darüber hochkam, dass ich es nie geschafft habe, eine tolle Karriere, einen spannenden Beruf und viel Geld in mein Leben zu manifestieren. Wirklich nichts Neues und schon zig Mal mit Gewaltfreier Kommunikation, Byron Katies The Work, Meditationen, Therapie und was weiß ich noch behandelt. Phasenweise schläft der Schmerz ein, da andere Probleme in meinem Leben nach Aufmerksamkeit schreien. Aber im Moment scheine ich keine anderen Probleme zu haben, also knabbere ich wieder an meinen Versagensgedanken und -gefühlen herum.

Aber dieses Mal bekam ich unerwartete Hilfe. Meine Freundin Laura rief mich spät nachts an und gab mir eine spontane Familienaufstellungsstizung per Telefon. Sie verdient damit ihren Lebensunterhalt und macht das ständig per Telefon oder Skype. Ich kann sie nur empfehlen: http://lauraghedina.com (Lauras Webseite ist in Englisch, aber sie ist eine Deutsche und praktiziert in beiden Sprachen).

Sie war überzeugt davon, dass ich wahrscheinlich deswegen so traurig war, weil mein Herzenswunsch nach einer Karriere auf ein Versprechen zurückzuführen sei, dass ich mal jemandem gegeben habe. Wir versuchten herauszufinden, wem ich dieses Versprechen wohl gegeben haben könnte.

Sie verlangte von mir als erstes, dass ich mir vorstellte, dass meine Karriere vor mir auf dem Stuhl sitzt und ich mich mit ihr unterhalten sollte. Ich stellte fest, dass es meiner Karriere eigentlich ganz gut zu gehen schien. Der war es egal, was ich fühlte, denn sie schien überhaupt kein Problem damit zu haben, dass sie war, wie sie war.

Dann sollte ich meine Mutter neben mich auf das Sofa setzen. Sofort kamen mir die Tränen. Ich spürte, dass ich ihr bereits als Kind versprochen hatte, ihr ihren Traum nach Ruhm, Geld und Anerkennung zu erfüllen. Ich schämte mich, dass ich es nicht geschafft hatte, ihr das zu geben. Und dann kam meine Oma noch ins Spiel. Sie hatte dieselben Träume und sie hatte sie an meine Mutter weitergegeben und diese dann an mich.

Ich spürte die Liebe aber auch den Ehrgeiz meiner Mutter. Sie wollte stolz auf mich sein aber sie wollte auch, dass ich glücklich bin. Einerseits war es ihr egal, was ich beruflich machte, solange es mir gut ging. Andererseits glaubte sie, dass mich eigentlich nur ein interessanter Beruf mit viel Prestige und vielleicht auch Geld, glücklich machen konnte.

Laura bat mich dann, mir meine Sehnsucht nach dieser ominösen glamourösen Karriere als schwere Sandsäcke vorzustellen, die ich meiner Mutter und Oma zurückgeben sollte. Gleichzeitig sollte ich ihnen wortwörtlich sagen, dass ich ihnen mit diesen Sandsäcken mein Versprechen, eine tolle Karriere zu machen, zurückgeben würde.

Oma hatte gar kein Problem damit. Sie nahm die Sandsäcke entgegen und kicherte nur. Sie hatte ja auch gut lachen. Schließlich ist sie schon seit einer Weile tot.

Bei meiner Mutter wurde es etwas schwieriger. Wir beide weinten. Ich konnte sehen, wie traurig sie war. Es fiel ihr schwer, dieses Versprechen und die Hoffnung auf seine Erfüllung zurückzunehmen. Aber nach ein paar Momenten spürte ich, dass ihre Liebe zu mir siegte. So war es immer zwischen uns. Sie hat einen riesigen Dickkopf aber letztendlich geht es ihr darum, dass ich meinen Weg finde und es mir gut geht.

Das alles fühlte sich an dem Abend gar nicht mal so schlecht an. Aber am nächsten Morgen beschloss ich, dass ich noch jemanden treffen musste. Jemanden, der am allermeisten enttäuscht wurde: Mich. Ich wollte endlich herausfinden, wie ich mir selber vergeben konnte.

Also saß ich jetzt plötzlich im Mövenpick und schaute mir die junge Karina an. Sie schaute zurück und ich fing sofort an zu weinen.

"Ach, Karina, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mir leid tut, dass ich nicht geschafft habe, was du dir gerade an diesem Tisch von deiner Zukunft erhoffst. Ich habe es nicht geschafft. Einfach nicht geschafft. Ich habe einen ganz normalen Beruf erlernt und arbeite im Büro. Etwas stinknormales, nichts Besonderes. Ich verdiene gerade mal genug Geld, um über die Runden zu kommen."

Die junge Karina wurde nicht nur traurig sondern auch wütend. Aber nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, fing sie an, mir Fragen zu stellen.

"Wie sieht dein Leben denn im Moment so aus?"

"Naja, ich bin normalgewichtig und ich habe Andrew vor ein paar Jahren geheiratet und ich lebe mit ihm in den USA. Und der Job, den ich gerade habe, macht mir manchmal richtig Spaß. Aber vor allen Dingen sind die Kollegen einmalig nett. Andrew und ich leben in einem kleinen Haus und ich reise zwei Mal im Jahre nach Berlin zurück. Das Leben ist eigentlich wirklich gut aber trotzdem trage ich immer dieses schlechte Gewissen und eine Menge Schamgefühle mit mir rum, weil ich es nicht geschafft habe, dir dein Versprechen zu erfüllen."

"Du bist normalgewichtig und hast einen Amerikaner geheiratet, der die große Liebe deines Lebens ist? Und dann lebst du auch noch in den USA und hast eigentlich eine nette Stelle? Und schreiben tust du auch noch?"

Sie ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen.

"Also ehrlich gesagt, hast du doch gar nicht mal so einen schlechten Job gemacht! Du hast von den drei großen Versprechen, die du mir gegeben hast, 2 1/2 eingehalten. Du bist normalgewichtig, du lebst mit deiner große Liebe zusammen und wenn du auch nicht die tolle Karriere gemacht hast, so hast du doch einen soliden Berufsweg eingeschlagen. Und außerdem lebst du in den USA! Wenn das kein Abenteuer ist!"

Die junge Karina konnte dann mit Leichtigkeit mein Versprechen nach einer schillernden Karriere zurücknehmen. Sie war glücklich mit dem, was ich geschafft habe und stellte sogar fest, dass ich von allen Versprechen eigentlich das am wenigsten wichtige nur teilweise erfüllt habe. Liebe und schlank-sein gingen bei ihr eindeutig vor Glamour und Prestige.

Wenn ich mir das jetzt noch einmal durchlese, hört sich das alles sehr banal an. Im Nachhinein denke ich: "Ist doch logisch, dass irgendeine ungenaue Karrierevorstellung weniger wichtig ist, als all die anderen Dinge, die ich im Leben erreicht habe." Aber die Wahrheit ist, dass sich das bis jetzt so nie für mich angefühlt hat. Ich habe immer nur Traurigkeit und Schamgefühle gespürt und konnte diesen unerfüllten Traum nicht vergessen. Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass ich mir wirklich vergeben habe.

Ich bin jetzt erlöst. Ich weiß nicht, ob das andauern wird. Aber es hat mir wirklich sehr geholfen, mich auf diese Art mit meinem Thema auseinanderzusetzen.

Probiert es doch auch einmal.

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