Mittwoch, 10. Juni 2015

Ich schreibe meine Vergangenheit um

Alles, was wir sehen, was uns begegnet und was wir erleben, interpretieren wir. Wir interpretieren es in einer Weise, die dann bestimmte Gefühle in uns auslösen. Was wiederum darauf hinausläuft, dass wir etwa mögen, nicht mögen oder es uns schlichtweg kalt lässt. Wenn das stimmt, dann müsste es doch ein Einfaches sein, dass ich meine Vergangenheit anders sehen kann.

Früher dachte ich immer, dass es Eines gibt, dass man nun wirklich nicht verändern kann: Die Vergangenheit. Ich wünschte mir andere Eltern oder andere Lehrer, weil ich davon überzeugt war, dass ich dann auch ein anderer Mensch geworden wäre. Aber da ich vergangene Ereignisse nicht ändern konnte, dachte ich, dass ich auch meine Gegenwart nicht ändern konnte. Schließlich basierte meine Gegenwart doch auf meiner Vergangenheit, oder? Ich war doch ein Produkt meiner Vergangenheit und ihr somit hilflos ausgeliefert.

So war ich z.B. früher davon überzeugt, dass meine Mutter verantwortlich für mein Übergewicht war. Schließlich war es nicht meine Idee gewesen, dass ich bereits mit sieben Jahren mit den Hungerkuren anfing. Woher hatte ich sonst schon als Kind den Druck her, dass ich unbedingt schlank sein musste? Ich war viele Jahre sicher, dass meine Mutter Schuld an meinem Leiden war und darum war ich sauer auf sie. Ich glaubte, dass mich meine Mutter mich nie wirklich akzeptiert hatte und darum immer wollte, dass ich abnahm.

Als ich mehr und mehr in die Welt der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg eintauchte, lernte ich, dass nichts in dieser Welt in Stein gemeißelt ist. Noch nicht einmal meine Vergangenheit. Dadurch dass ich mich in meine Mutter einzufühlen lernte, veränderte sich meine Vergangenheit in der folgenden Weise: Ich konnte jetzt sagen, dass ich von einer liebevollen und sehr unterstützenden Mutter großgezogen wurde, die das Pech hatte, dass ich süchtig nach Mehl- und Zuckerprodukten war. Darum bekamen wir ein Problem miteinander.

Heute sehe ich, dass meine Mutter immer versucht hatte, mich zu unterstützen. Sie wollte mir unbedingt ein erfolgreiches und erfülltes Leben ermöglichen und versuchte mir alles, was dafür nötig war, zu bieten. Für sie war das Schlank sein eines der Dinge, die wichtig für ein glückliches Leben waren. (Ballet, Kunst- und Kulturkenntnisse und Klavierspielen gehörten für sie auch dazu.)

Ich bin heute davon überzeugt, dass auch dicke Frauen ein erfolgreiches und erfülltes Leben führen können, wenn sie sich selber akzeptieren oder sogar lieben können. Ich glaube nicht mehr, dass mein Übergewicht dafür verantwortlich war, dass ich Vieles in meinem Leben nicht erreicht habe, sondern mein Selbsthass.

Das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber als ich noch Kind war, hatte sich nicht verändert. Aber ich fand eine neue Interpretation ihres Verhaltens. Und somit hatte sich auch meine Geschichte verändert.

Dadurch, dass sich meine Sichtweise über meine Vergangenheit verwandelt hatte, änderte sich meine Gegenwart. Seitdem habe ich zu ihr die beste und liebevollste Beziehung, die man sich nur denken kann.

Die Art, wie wir über unsere Vergangenheit denken, beeinflusst unsere Gegenwart und auch unsere Zukunft maßgeblich.

In den letzten Monaten schreibe ich anscheinend einen anderen Bereich meiner Vergangenheit um. Mein Leben lang habe ich von mir geglaubt, eine Versagerin zu sein. Ich habe nicht die akademischen Grade erlangt, die sich meine Mutter (und ich mir auch) so sehr gewünscht hat. Ich verdiene einen ganz durchschnittlichen Lohn und bin auch keine berühmte Künstlerin oder Schriftstellerin geworden. Nichts, was ich erreicht hatte, schien wirklich etwas wert zu sein. Nichts davon hielt meinem Standard stand. Ich schämte mich.

Aber, wie gesagt, das ändert sich gerade. Denn auch hier ist alles nur eine Frage der Bewertung.

Ich sehe jetzt viele Dinge in meiner Vergangenheit anders und fühle mich darum auch anders. Ich kann jetzt sagen, dass ich weder mein vergangenes noch gegenwärtiges Leben als Versagen bewerte. Ich sehe sogar immer mehr und mehr Erfolge, die ich vorher so noch nie wahrgenommen hatte.

Ich habe noch keine Ahnung, wohin das führen soll. Wenn ich so weiter mache, werde ich wohl in sechs Monate glauben, dass ich Millionärin, Genie und Schönheitskönigin bin.

Ob das wohl auch meine Zukunft verändern wird?

1 Kommentar: